Tirich Mir 7.708 m

 

Der Tirich Mir ist der höchste Berg des Hindukusch. Er liegt auf pakistanischem Staatsgebiet, 20 km südlich der Grenze zu Afghanistan.

Als ich im August 1971 auf dem höchsten Berg Afghanistans, dem 7.485 m hohen Noshaq stand, sah ich bei bestem Wetter im Süden ein gewaltiges und selten schönes Bergmassiv mit sieben Gipfeln über 7.000 m. Ich war fasziniert - eine Faszination, die mich überwältigt hat, nicht nur kurz, sondern auf Dauer. In meinem Hinterkopf hat sich der Wunsch festgesetzt, irgendwann eine Besteigung dieses Kolosses zu versuchen.

Bald erfuhr ich, dass in Pakistan ein ähnliches Genehmigungsverfahren durchgestanden werden musste, wie in Nepal. Das Antragsformular bestand aus 17 Seiten und musste in 15-facher Fertigung eingereicht werden. Anfang Juli 1974 habe ich den Antrag an das zuständige pakistanische Ministerium gesandt. Kaum zu glauben, aber der Riesenpapierberg mit fast 300 Seiten ist im Netzwerk der pakistanischen Bürokratie verlorengegangen bzw. auf falschen Gleisen gelandet. Die Bemühungen der pakistanischen Botschaft, der Repräsentanten der pakistanischen Fluggesellschaft und meine persönliche Vorsprache im Ministerium in Islamabad brachten letztendlich nicht den erhofften Erfolg. Ende April 1975 hat man mir schließlich mitgeteilt, dass für 1975 die Besteigungsgenehmigung anderweitig vergeben worden sei.

Per Zufall erfuhr ich, dass der Schweizer Max Eiselin das große Genehmigungslos gezogen hat und Teilnehmer sucht. Mit ihm war ich schnell einig, dass wir uns seiner Expedition anschließen werden. Wir, das waren der Schweizer Hans v. Känel und seine Freundin Hanna Müller, der Österreicher Wastl Wörgötter, meine Frau Hannelore und ich.

Vor uns waren 6 Expeditionen am Tirich Mir Hauptgipfel erfolgreich. Insgesamt 18 Bergsteiger hatten bisher den höchsten Punkt erreicht. Wir wollten die Besteigung über den NW-Grat auf der sogenannten Tschechenroute versuchen, die 1967 von einer tschechischen Expedition erstmals begangen worden ist. Abgesehen von spaltenreichen Gletschern und steilen Eispassagen, muss bei diesem Anstieg nach dem Bericht der Erstbesteiger, zwischen 6.800 m und 7.200 m ein Couloir durchstiegen werden, das Kletterschwierigkeiten bis zum 5. Grad aufweist.

Am 4. Juli 1975 geht's dann endlich los. Von Zürich fliegen wir über Damaskus, Karachi und Rawalpindi bis Peshawar. Von dort bringt uns eine alte klapprige Fokker Friendship nach Chitral. Hier bleiben wir ein paar Tage ehe uns mutige Pakistani mit einigen Jeeps auf einer abenteuerlichen und halsbrecherischen Piste in atemberaubendem Tempo bis Mush Gol fahren. Bei unserer Ankunft haben wir weiche Knie und sind froh, dass es jetzt nur noch per pedes weitergeht. Wir glauben: Schlimmer wird's nimmer.

Vier Tage dauert der landschaftlich einmalig schöne Anmarsch. Zuerst überschreiten wir nach einem strapaziösen Anstieg von 1.800 m den Zani-An-Paß (ca. 3.800 m) und steigen anschließend ab nach Shagrom. Der Weiterweg geht am Chitral-River entlang und ist mit heiklen Kletterpassagen entlang tosender Stromschnellen gespickt. Nichts für schwache Nerven. Am dritten Tag erreichen wir einen traumhaft schönen Lagerplatz mit dem verheißungsvollen Namen Sugar Base. Ein Priester aus Genf, der zum Teilnehmerkreis gehört, liest eine katholische Messe. Ein besonderes Erlebnis in dieser einmaligen Umgebung. Tags darauf erreichen wir auf etwa 4.600 m unser Basislager.

Mit meist schwerem Gepäck in ständigem Auf und Ab, das für unsere Akklimatisation gut ist, bauen wir in etwa 5.100 m und 6.000 m Zwischenlager auf. Vom Lager II steigen Wastl, ein weiterer Österreicher und ich am 20. Juli auf den südlich von unserem Ziel gelegenen Irg Zom (6.778 m). Von dort ist das klettertechnisch schwierige Couloir des Tirich Mir, das bis auf etwa 7.200 m reicht, gut einsehbar. Wir überzeugen uns, dass die Erstbegeher mit ihren Schwierigkeitsangaben nicht übertrieben haben. Das Couloir wird uns sicher alles abverlangen.

Wie schon vor Expeditionsbeginn abgesprochen, hat sich Hans v. Känel unserer beiden Damen, seiner Freundin Hanna und meiner Frau Hannelore angenommen. Er wollte die beiden als erste Frauen auf den Tirich Mir bringen. Einen Tag nach uns ist auch er mit Hanna und Hannelore auf den Gipfel des Irg Zom gestiegen, um etwas für die noch bessere Akklimatisation zu tun.

Dann allerdings bremsen uns einige Schlechtwettertage bis Hannelore und ich am 26. Juli mit Sack und Pack auf 6.600 m aufsteigen, um dort zu übernachten.

Morgen wollen Wastl und ich zusammen mit drei weiteren Österreichern den ersten Gipfelsturm versuchen. Schon um 3.30 Uhr gehen wir los. Nach der breiten und tiefen Randkluft kommt ein steiles Eisfeld, das bis zum Couloir führt. Wir seilen uns an. Die Kletterei ist, wie erwartet, alles andere als leicht. Alte Fixseile hängen herum. Sie helfen etwas, aber verlassen darf man sich auf sie nicht. Die Hilfe ist mehr ideeller Natur. Wie lange wir geklettert sind, weiß ich nicht mehr. Beim Ausstieg in die Scharte (ca. 7.200 m) erreicht uns jedenfalls die Sonne. Die Umgebung ist atemberaubend. Links von uns die schroffen Abbrüche des über 7.600 m hohen Tirich Mir West, rechts von uns der Hauptgipfel mit seiner wilden Flanke, die Unnahbarkeit ausstrahlt.

Wir fotografieren, beeilen uns aber, denn der Weg ist noch weit. Zuerst kommt eine steile Eisflanke mit viel Blankeis. Sie erfordert unsere ganze Aufmerksamkeit. Dann folgen in schöner Regelmäßigkeit immer wieder Fels- und Eispassagen. Die Felsen sind nicht sehr schwierig, aber gefährlich brüchig. Und irgendwann ist auch das vorbei. Wir sind am Gipfel, ausgepowert, aber überglücklich. Aus Felsstücken bauen wir eine kleine Pyramide. Sie wird geschmückt mit Wimpeln und ich trenne mich von meinem weißblauen bayerischen Sacktuch und lasse es oben als Zeichen unseres Erfolgs.

Der dann folgende Abstieg beschäftigt uns voll und ganz. Nur nicht leichtsinnig werden. Bei Erreichen der Scharte wird es dämmerig. Da wir das Couloir nicht im Schummerlicht abklettern wollen, kriechen wir in ein winziges Zelt. Irgendjemand hat es als Biwakunterkunft aufgestellt. Wir finden nichts Eß- und Trinkbares und haben weder Isoliermatten noch Schlafsäcke. Alles was wir haben, ziehen wir an und warten frierend und schlotternd auf den nächsten Morgen. Im Morgenlicht erwachen unsere Lebensgeister und alsbald beginnen wir mit dem Abstieg. Die Kletterei macht uns warm. Im Lager III werden wir herzlich begrüßt. Hannelore und Hanna erwarten uns schon. Es gibt eine kräftige Suppe und Tee. Jetzt geht's uns wieder gut.

Zwei der zurückkehrenden männlichen Gipfelstürmer konnten es sich nicht verkneifen, unserer in Wartestellung verharrenden gemischten Seilschaft, bestehend aus Hans, Hanna und Hannelore, immer wieder einzureden, dass dieser Anstieg für Frauen viel zu schwer sei. Wenn ihre Frauen dabei wären, würden sie den geplanten Versuch nicht zulassen. Aber all das vermag die schweizerische Beharrlichkeit von Hans nicht im Geringsten zu beeindrucken. Er will mit den beiden Frauen zum Gipfel - sonst nichts.

Gestern hat er, was auch wir im Abstieg registriert haben, noch einige neue Fixseile im Couloir angebracht, um besser sichern zu können.

Trotz aller Unkenrufe brechen Hans und die beiden Frauen am 29. Juli im Lager III auf. Sie gehen später weg als wir, um die Kälte zu vermeiden. Heute wollen sie nur in die Scharte und dort biwakieren. Im Gegensatz zu uns haben sie Matten und Schlafsäcke dabei. Langsam, aber voll im Plan und sicher erklettern sie das Couloir und bleiben übernacht in der Scharte.

Nicht immer geht Kraft vor Klugheit. Mit der gleichen Vorsicht und Umsicht erreichen die drei am nächsten Tag gegen 16 Uhr den Hauptgipfel des Tirich Mir und sind damit die ersten Frauen auf diesem ebenso schwierigen wie schönen hohen Berg. Hannelore ist jetzt die höchste Deutsche. Hans war der Garant dieses großartigen Erfolgs. Die tolle Leistung der beiden Frauen soll das nicht mindern. Sie sind mit Recht stolz.

 

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