Pik Kommunismus 7.495 m

 
Der Pik Kommunismus ist der höchste Berg der ehemaligen Sowjetunion. Heute gehört er zum Staatsgebiet der Republik Tadschikistan. Er liegt im Pamir knapp 50 km südlich der Grenze zu Kirgistan. Dieses Hochgebirge Zentralasiens wird auch "Dach der Welt" genannt, weil es der Knoten der großen Gebirgssysteme unserer Erde ist. Hier treffen sich Tienshan, die Alai- und Transalai-Gebirge, Kunlun Shan, Karakorum und Hindukusch.

Der Name des Pik Kommunismus wurde mehrfach geändert. Bis Ende der 50er Jahre hieß er Pik Stalin und nach dem Zerfall der Sowjetunion erhielt er den Namen des Tadschiken Ismail Samani.

Erstmals ist es 1976 westlichen Bergsteigern gestattet worden, die Besteigung des Pik Kommunismus zu versuchen, der ebenso wie der von uns 1974 bestiegene Pik Lenin in einer damals absolut gesperrten Region lag. Eingeladen hat abermals die sowjetische Bergsteiger-Föderation und in deren Auftrag der Salzburger Marcus Schmuck. Zum Kreis der Teilnehmer gehörten u.a. wiederum Hannelore und ich sowie ein junger Freund von mir, Sepp Ritter, der als Extremkletterer schon von sich reden gemacht hatte.

Wie zwei Jahre vorher, flogen wir von Wien nach Moskau und dann ins kirgisische Osch. Dieses Mal blieb uns die 10-stündige Busfahrt erspart. Ein kleiner Jet brachte uns nach Daraut Kurgan, wo wir inmitten der kirgisischen Steppe auf einer improvisierten Piste landeten. Anschließend transportierten uns LKWs in einer abenteuerlichen Fahrt in das uns schon bekannte Lager am Pik Lenin im Atschik-Tasch-Tal.

Nach einigen Akklimatisationstouren folgte am 17. Juli mit einem sowjetischen Militärhelikopter ein unvergesslicher Flug zu dem etwa 100 km entfernten Fortambek-Lager. Dort war auf etwa 4.000 m nicht weit vom gleichnamigen Gletscher auf der in atemberaubender Umgebung gelegenen Sulojew-Wiese ein gut ausgestattetes Basecamp eingerichtet worden. Zum Eingewöhnen blieb uns wenig Zeit.

Schon bald folgt das jedem Höhenbergsteiger bekannte und unabdingbare Ritual. Ein beständiges Auf und Ab mit schweren Lasten, das der Akklimatisation, aber vor allem der Versorgung der oberen Lager mit der notwendigen Ausrüstung und Verpflegung dient. Höhenträger ist jeder für sich selbst. Helfer gibt es nicht.

Zunächst überqueren wir den angrenzenden Gletscher. Über sehr steile Geröllhänge geht es dann hinauf zu einem Eisfeld und nach diesem über teils schwierige Felspassagen zu einer Gratschulter. Dort auf etwa 4.950 m errichten wir neben einem hübschen Eissee unser Lager I. Anschließend klettern wir bis zum Ende eines Felsgrats. Hier bauen wir auf ca. 5.900 m am 23. Juli unser nächstes Lager auf. Jetzt folgt der Albtraum aller Pik Kommunismus-Besteiger, die den Aufstieg am Fortambek-Lager beginnen müssen. Ein nicht weniger als 12 km langes, fast ebenes Firnplateau in einer Höhe zwischen 5.900 und 6.000 m. Das berüchtigte Plateau verläuft in Ost-West-Richtung, wird im Süden durch eine über 6.000 m hohe Bergkette begrenzt, während es im Norden mehr als 2.000 m senkrecht abbricht. Berüchtigt ist dieser Teil des Aufstiegs, weil er schon für viele Aspiranten zum Endpunkt wurde. Die Überquerung des Plateaus ist ein echtes Martyrium. Wer damit beginnt, muss alles mit sich schleppen, was bis zum Gipfel gebraucht wird. Die Schneeverhältnisse sind höchst unterschiedlich. Eispartien wechseln mit Strecken ab, in denen der Schnee grundlos zu sein scheint. Ein übriges trägt die große Höhe bei.

Nach einer stürmischen Nacht bereiten wir gerade alles für den Abmarsch vor. Mitten hinein platzt die erste Hiobsbotschaft. Der Österreicher Waldemar Schörghofer, ein unglaublich leistungsfähiger Bergsteiger, der schon im Vorjahr am Tirich Mir mit von der Partie war, ist auf einem Auge schneeblind. Er muss im Zelt bleiben. Ohne ihn ziehen wir los. Die düsteren Prognosen bewahrheiten sich leider. Das Plateau ist eine nicht enden wollende Schinderei, die uns alles abverlangt. Um so glücklicher sind wir, auf etwa 6.000 m nach stundenlangen Strapazen unsere Zelte aufstellen zu können. Unser Glück währt nicht lange. Die zweite Hiobsbotschaft folgt. Unser Freund Sepp muss sich übergeben. Meist ein Signal für Höhenkrankheit und damit ein Gebot, in tiefere Regionen abzusteigen. Betrübt schmieden Hannelore und ich schon Rückzugspläne, doch unser Sepp weigert sich entschieden, auch nur an Umkehr zu denken. Er hat außerdem sogleich eine plausible Erklärung parat: Er habe kurz vorher eine Eisentablette eingenommen und in der Packungsbeilage werde schon auf möglichen Brechreiz hingewiesen. Sepp kriecht im Nachbarzelt in seinen Schlafsack und beendet dadurch die Debatte. Uns bleibt nichts anderes übrig als dasselbe zu tun.

Gut ausgeschlafen und erholt beginnen wir am nächsten Morgen unser Tagewerk. Vor uns erhebt sich ein steiler Eisrücken, der etwa 6.950 m hohe Pik Duschanbe, der ein dem Pik Kommunismus vorgelagerter Eisgipfel ist. Mit schweren Rucksäcken steigen wir über die Eisflanke bis auf 6.600 m und finden einen Platz für unsere Zelte. Weswegen Marcus schon hier das Lager einrichten will und nicht erst in der Gipfelregion des Pik Duschanbe, wie einige andere Teams, überrascht uns, aber wir akzeptieren es.

Rein rechnerisch trennen uns noch 900 m vom Gipfel. Hinzu kommt noch ein Abstieg hinüber zum eigentlichen Gipfelmassiv des Pik Kommunismus, so dass wir morgen gute 1000 Höhenmeter vor uns haben. Ein gewaltiger Schlauch in dieser Höhe.

Am Nachmittag kommt auch noch Waldemar Schörghofer. Dieser Konditionsbolzen hat in einem Zug das Plateau überquert und ist noch bis zu uns aufgestiegen. Das Glas der Sonnenbrille vor seinem geschädigten Auge hat er mit Pflaster überklebt und somit den Gewaltmarsch praktisch als Einäugiger absolviert.

Zum Abendessen gibt es Kartoffelsuppe. Nach diesem lukullischen Highlight fällt zu unserem Entsetzen meinem Freund Sepp das Essen wieder aus dem Gesicht. Sofort erläutert er uns wortreich, dass er sich prächtig fühle, keinerlei Kopfweh habe und somit keinesfalls höhenkrank sei. Er habe nur eine extreme Abneigung gegen Kartoffelsuppe, weil er sie in der Vergangenheit immer wieder bei vielen Biwaks essen musste. Hannelore und ich haben unsere Zweifel, aber ändern können wir nichts.

Als wir am 26. Juli frühmorgens um 5.30 Uhr zu dritt aufbrechen, sind unsere Zeltnachbarn darunter Marcus Schmuck, Waldemar Schörghofer, Franz Edelhauser und Bernulf Crailsheim schon eine gute Stunde unterwegs. Sie sind im Aufstieg zum Gipfel des Pik Duschanbe. Sepp glaubt, wir könnten unseren Rückstand durch eine direktere Route aufholen. Ich bin skeptisch, gebe aber nach. Leider bewahrheiten sich die gehegten Zweifel. Die Variante führt uns in kaum begehbares Gelände, so dass uns nur der Rückzug bleibt. Leider kostet uns der erfolglose Versuch viel Zeit. Als wir die lange vor uns aufgebrochenen Kameraden wieder sehen können, sind sie schon im Aufstieg über die Eisflanke, die auf den Gipfelgrat führt. Nur Bernulf ist etwas langsamer. Ihn erreichen und überholen wir. Auf etwa 7.300 m kommen auch wir nach Durchsteigung der Gipfelflanke zu einer markanten Einschartung des vom Gipfel herabziehenden Nordgrats. Als Erster kommt uns Franz Edelhauser vom Gipfel entgegen und murmelt im Vorbeigehen, dass unser Freund Waldemar den Abstieg über die Ostwand gewählt habe. Mit dieser Mitteilung können wir nichts anfangen. Wir kennen die Gegebenheiten weiter oben nicht, aber so richtig glauben wir das Gesagte nicht. Zum Nachfragen haben wir keine Zeit. Es ist schon reichlich spät geworden und vor allem Sepp kämpft gegen die jetzt immer offensichtlicher werdenden Symptome der Höhenkrankheit.

Nach einiger Zeit kommt uns Marcus entgegen. Er sagt, dass Waldemar aus unerklärlichen Gründen über die mehr als 1.000 m hohe Ostwand abgestürzt sei. Auch jetzt können wir das Unfassbare noch nicht glauben.

Als wir gegen 17 Uhr den Gipfel erreichen, glauben wir immer noch im Stillen, Waldemar müsste irgendwo auftauchen. Aber er bleibt verschwunden. Er ist tatsächlich abgestürzt und nach menschlichem Ermessen tot. Ob seine eingeschränkte Sehfähigkeit als Folge der Schneeblindheit die Ursache war? Niemand wird es je erfahren.

Im Abstieg kurz unterhalb des Gipfels treffen wir Bernulf. Er geht sehr langsam, ist offensichtlich erschöpft und hat eines seiner Steigeisen in der Hand. In der Scharte warten wir auf ihn. Wir können ihn nicht allein lassen. Da auch Sepp nicht in bester Verfassung ist, kommen wir sehr langsam voran. Immer wieder müssen wir warten. Ich dränge zur Eile, damit wir noch vor Einbruch der Dunkelheit die Gletscherspalten vor dem Pik Duschanbe überwinden können. Meine Mahnungen bleiben erfolglos. Es wird dunkel und wir müssen vor Erreichen der Spaltenzone auf etwa 6.900 m biwakieren. Eine entsetzliche Nacht liegt vor uns. Es ist bitterkalt. Wir haben nur einen Biwaksack, der vor dem aufkommenden Sturm etwas schützt, nicht aber vor der eisigen Kälte. An Schlaf ist nicht zu denken. Nur sekundenweise dösen wir. Doch auch diesmal weicht die Nacht und der nächste Morgen kommt. Obgleich die Sonne scheint, herrscht immer noch klirrende Kälte. Ich kümmere mich um Bernulf, Hannelore um Sepp. Nach ein paar Stunden erreichen wir einige Zelte. Ein russischer Arzt untersucht Bernulf und Sepp. Ersterer bekommt eine Kreislaufspritze, Sepp lehnt sie ab. Hannelore und mir fehlt nichts. Bernulf hat schwere Erfrierungen an Zehen, der Nase und den Ohren. Die Füße von Sepp sind stark geschwollen. Seine Erfrierungen stellen sich später als viel schlimmer heraus, als sie jetzt zu sein scheinen. Mit unendlich viel Mühe, Geduld und wohl auch Glück kommen wir bis zu den Zelten am Plateau, und, was kaum zu glauben ist, tags darauf ans Plateauende. Dort nehmen einige Russen Bernulf und Sepp unter ihre Fittiche. Sie werden ihrer Erfrierungen wegen vorzeitig nach Moskau und in die Heimat zurückgeflogen.

Unser Abstieg und die Heimreise verlaufen nach Plan. Erfolgreich, aber unendlich traurig über den Tod unseres Freundes Waldemar, kommen wir zurück nach Deutschland.


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