Minya Konka 7.556 m

 
Irgendwann, Genaues weiß ich nicht mehr, fiel mir das Buch des Schweizers Eduard Imhof "Die großen Kalten Berge von Szetschuan" in die Hände. Die Bilder vom Minya Konka, den die Chinesen Gongga Shan nennen, haben mich so beeindruckt, dass ich mich für die Besteigung dieses wundervollen Berges, der sicherlich einer der schönsten unserer Erde ist, nachhaltig interessiert habe.

Der Minya Konka ist der östlichste 7.000er unserer Erde. Er ist ein Teil des Hengduan-Gebirges, das in der Provinz Szetschuan (Sichuan) östlich des Himalayas liegt. Er ist der höchste Berg des eigentlichen chinesischen Reiches (außer Tibet und den in der Neuzeit zu Sinkiang hinzuerworbenen Landstrichen).

Die Einheimischen nennen den Minya Konka wegen seiner ebenso abweisenden wie ebenmäßigen Gestalt, die von Steilheit und Schroffheit geprägt ist, König der Berge. Die Schönheit des Berges ist aber leider auch die Ursache seiner Gefährlichkeit. Jede nur denkbare Route ist unablässig von Eis- und Steinschlag bedroht und in den steilen Flanken herrscht ständig höchste Lawinen- und Schneebrettgefahr. Von der chinesischen Bergsteigervereinigung wurde er als der schwierigste Berg Chinas bezeichnet. Auch hierzulande fehlte es nicht an mahnenden Appellen, das große Risiko zu meiden.

Bis zum Jahre 1929, also bis zu einer Zeit, in der alle wichtigen Gipfel des Himalayas und der Anden erforscht und vermessen waren, ist der Minya Konka und damit die ganze Gebirgsgruppe als Folge ihrer Unzugänglichkeit und der widrigen Wetterverhältnisse von den westlichen Wissenschaftlern unentdeckt geblieben. Vom Wetter wird gesagt, es gleiche ganzjährig der Monsunzeit im Himalaya, da die warmen Luftmassen vom südchinesischen Meer dauernd und ohne vorherige Barrieren auf diesen über 7.000 m hohen Fels- und Eisriesen treffen.

Die Söhne von Theodore Roosevelt, dem 26. Präsidenten der USA, haben im Zusammenhang mit ihren Forschungen über Pandabären den Berg erstmals aus beträchtlicher Distanz gesehen und berichtet, er sei höher als der Mount Everest.

Vor uns haben insgesamt 9 Expeditionen, darunter chinesische und japanische Großexpeditionen, versucht, den Minya Konka zu besteigen. Nur vier Expeditionen waren erfolgreich. Insgesamt haben 13 Menschen den Gipfel erreicht, 14 sind bei den Besteigungsversuchen ums Leben gekommen.

Als Sigi Hupfauer und ich im Mai 1983 von unserer Shisha Pangma-Expedition nach Peking zurückkommen, lassen wir uns zur CMA (Chinese Mountaineering Association) bringen, die für Besteigungsgenehmigungen chinesischer Berge zuständig ist. Wir stellen für September/Oktober des nächsten Jahres Antrag auf Genehmigung zur Besteigung des Minya Konka.

Einige Zeit später sagt Sigi seine Teilnahme aus persönlichen Gründen ab. Er empfiehlt mir, mit Hans Engl aus Waakirchen Verbindung aufzunehmen. Hans war bekannt als außerordentlich leistungsfähiger Bergsteiger. Er war übrigens der erste Deutsche, der den Mt. Everest ohne künstlichen Sauerstoff bestiegen hat. Ich folge dem Rat und daraus ist eine bis heute dauernde Freundschaft geworden. Auf der Suche nach einem weiteren Teilnehmer kommen wir auf Heinz Zembsch aus Strub, einem Berchtesgadener Bergführer, dessen Watzmann-Ostwand-Begehungen schon damals im dreistelligen Bereich waren. Hans und ich kannten ihn bestens.

Am 15. September 1984 fliegen Hans, Heinz und ich über Peking nach Chengdu. Diese uns damals weitgehend unbekannte Millionenstadt ist die Hauptstadt der volkreichsten chinesischen Provinz Szetschuan. Nur einen Tag dauert es, die notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Dann verlassen wir mit einem Jeep und einem LKW die riesige Stadt.

Vor uns liegt eine Fahrtstrecke von fast 700 km. Wir kommen durch die Städte Ya'an, Luding und Kangding. Nach dreitägiger Fahrt, die uns u.a. auch über einen 4.300 m hohen Paß führt, erreichen wir Liubaxiang (ca. 3.500 m). Den letzten Streckenabschnitt (etwa 110 km) kann man nicht mehr als Straße, sondern bestenfalls als gerade noch passierbare Piste bezeichnen. Wir glauben ernsthaft, am Ende der Welt zu sein. Die geradezu ungewöhnliche Schönheit der Landschaft, sowie die Üppigkeit und der Artenreichtum der Vegetation, die bis auf über 4.000 m Meereshöhe reicht, faszinieren uns.

Jetzt beginnt der dreitägige Anmarsch. Unser Gepäck, insbesondere die Verpflegung, wird von Pferden und ihren Treibern übernommen. Wir überschreiten den 4.600 m hohen Zimei-Paß, ehe wir bei der sogenannten Gompa Konka (3.800 m) ankommen. Diese Gompa ist ein altes Lamakloster, das während der Kulturrevolution größtenteils zerstört worden ist und damals nur noch von einem Lama bewohnt war.
Er war geistiges Oberhaupt und Bauarbeiter in einer Person. Er versuchte "sein Kloster" wieder aufzubauen und hoffte dabei ständig und - wohl meist vergebens - auf die Mithilfe der in der Umgebung wohnenden gläubigen Bauern.

In unmittelbarer Nähe der Gompa schlagen wir unsere Zelte auf und richten unser eigentliches Hauptlager ein.

Schon am nächsten Tag gehen wir schwer beladen los, um einen Platz zu suchen, an dem wir ein vorgeschobenes Basislager errichten können. Es soll für uns der eigentliche Ausgangspunkt werden. Zunächst müssen wir in ein Bachbett absteigen. Nach einer halben Stunde kommen wir zu einem zweiarmigen reißenden Bach. Da wir trotz allen Suchens keinen Übergang finden, werden wir für einige Stunden zu Pionieren. Wir bauen aus herbeigeschleppten Felsbrocken und angeschwemmten Baumstämmen zwei Brücken. Obgleich diese Arbeit viel Zeit gekostet hat, steigen wir weiter auf. Auf einer Höhe von 4.400 m finden wir nach strapaziösem Aufstieg am späten Nachmittag eine wunderschöne Wiese, auf der unzählige Enziane blühen. Sofort wissen wir, dies ist der Platz für unser vorgeschobenes Basislager. Von hier aus sieht man unsere Route und den majestätischen Gipfel des Minya Konka. 3.200 Höhenmeter trennen uns von ihm. Ob wir das schaffen?

Drei Tage lang schleppen wir Lasten zum vorgeschobenen Basislager, bis dort alles ist, was wir brauchen. Am dritten Tag bleiben wir oben. Der Wettergott scheint uns hold zu sein.

Vor uns liegen jetzt mühsame Geröllhänge, eine Gletscherzone mit einer tiefen Randkluft und ein brüchiger sowie stein- und eisschlaggefährdeter Felspfeiler. Die Orientierung ist teilweise schwierig und wir nehmen uns die Zeit, den gefundenen Weg zu markieren. Nach drei Tagen steht auf 5.350 m am Ende des erwähnten Felspfeilers unser erstes, etwas geräumigeres Hochlagerzelt. Schon vor unserer Abreise waren wir einig, von da an nur noch mit einem winzigen Zweimann-Biwakzelt weiterzugehen, das immer wieder ab- und aufgebaut wird. An jedem Gramm muss gespart werden.

Die nunmehr folgende Eis- und Schneeflanke versichern wir, soweit nötig, mit Fixseilen. Auf einer Höhe von 5.900 m erreichen wir den NW-Grat. Der tobende Höhensturm will uns anscheinend abschrecken. Jenseits der Gratkante finden wir im Schutz eines Seracs einen akzeptablen Platz für unser kleines Zelt. Fast reißt es uns der Sturm weg, als wir einen Augenblick bei seiner Verankerung nicht aufpassen.

Auf unserem weiteren Anstieg fegt trotz Sonnenscheins ein eisiger Sturm über den NW-Grat. Oft fragen wir uns, ob es noch Sinn macht weiterzugehen. Ganz nahe sind wir daran umzukehren.

Doch unsere Beharrlichkeit wird belohnt. Nach einigen Stunden erreichen wir den sogenannten Hump, einen markanten, steilen Grataufschwung. Er ist uns aus den Beschreibungen anderer Expeditionen bekannt.

Trotz der fortgeschrittenen Zeit überschreiten wir noch den 6.385 m hohen Hump. Über seine bis zu 60 Grad steile Rückseite klettern wir in die Scharte hinunter. Sie liegt vor dem 1.400 m hohen Eis- und Felsgrat, der zum Gipfel führt. Während des Abstiegs geht es Heinz nicht gut. Sein Magen rebelliert und er bricht mehrmals reine Galle. Dabei wird mir so richtig bewusst, dass wir in einer ausgesprochenen Mausefalle sitzen. Ein Zurück gäbe es nur über den hinter uns liegenden Grataufschwung, der, wie gesagt, in seinem oberen Teil extrem steil ist. Eine Unterstützung von dritter Seite erscheint absolut ausgeschlossen. Wir sind im gesamten Hengduan-Gebirge und damit im Umkreis von mindestens 100 km die einzigen Bergsteiger.

Da natürlich an dieser Situation nichts zu ändern ist, stellen wir in der erwähnten Scharte bei sich ständig verschlechternden Wetterverhältnissen und starkem Sturm unser kleines Zelt auf. Ob jetzt das berüchtigte Minya Konka-Wetter kommt? Ist unser bisheriges Wetterglück zu Ende? Es scheint so.

Der nächste Tag bringt schlechtes Wetter. Der Sturm zerrt unablässig an unserem Zelt. Im dichten Nebel sehen wir kaum 20 m weit. An einen weiteren Aufstieg ist nicht zu denken. Wir bleiben zu dritt den ganzen Tag in unserem winzigen Zweimannzelt. Heinz fühlt sich etwas besser, aber keineswegs gut.

Schon während der Nacht tritt Wetterbesserung ein. Am Morgen sind die Verhältnisse so, dass wir weiter aufsteigen können. Wir brechen unser Zelt ab, verstauen es in den Rucksäcken und steigen in den riesigen Eis- und Felspfeiler ein, der den Gipfel trägt.

Nach etlichen Stunden finden wir im Gewirr von Spalten und Seracs einen winzigen Platz. Auf einer Höhe von 6.680 m schlagen wir unser kleines Zelt wieder auf und verbringen dort die Nacht. Es wird eisig kalt und die Innenseite des Zeltes ist dick mit Eis überzogen. Eine grausame Nacht. Heinz wird geschont. Er liegt in der Mitte. Hans und ich an den eisüberzogenen Wänden. Oft plagt uns Atemnot. An Schlaf ist kaum zu denken.

Schon um halb fünf beginnen wir mit den Vorbereitungen zum Aufbruch. Wir schmelzen Schnee, kochen Tee und essen einige Bissen. Als wir um halb sechs losgehen wollen, ist es noch stockdunkel. Schnell wird uns klar, dass unsere Stirnlampen nicht ausreichen. Zu unübersichtlich und schwierig ist das Gelände. Wir kriechen in unser Zelt und erwarten den Tag. Um 7 Uhr wird es endlich hell. Wir können weiter.

Die Reihe der steilen Eis- und Felsabbrüche erscheint unendlich. Immer wieder glauben wir, den Gipfel zu sehen und immer wieder müssen wir resignierend feststellen, dass es nicht er, sondern lediglich ein weiterer Eiswulst ist.

Dem Höhenmesser misstrauen wir. In großen Höhen werden sie unzuverlässig. Schließlich lese ich 7.400 m ab; vor uns ist wieder einmal ein Eisaufschwung. Da wir schon oft genug enttäuscht worden sind, rechnen wir damit, dass ein weiterer folgen wird. Heinz ist ausgepumpt und bleibt in einer etwas windgeschützten Mulde sitzen. Hans und ich steigen weiter. Wir wollen sehen, wie es weiter geht. Als wir die Spitze des Aufschwungs erreichen, erkennen wir, es ist der höchste Punkt. Von hier aus geht es nach allen Seiten nur noch bergab. Wir stehen, soweit das Auge an diesem Sonnentag reicht, auf dem höchsten aller Berge Szetschuans.

Hans steigt bis zu Heinz zurück. Er sagt ihm wie nahe der Gipfel ist und kommt mit ihm wieder herauf. Jetzt ist unser Erfolg vollkommen. Uns ist die fünfte Besteigung dieses schwierigen Berges gelungen. Zum ersten Mal erreichen alle Teilnehmer einer Minya Konka-Expedition den Gipfel: Die Sicht ist gigantisch. Die Erstbesteiger haben nicht zu viel versprochen.

Wir machen einige Bilder und nach etwa einer halben Stunde beginnen wir gegen 14 Uhr mit dem Abstieg. Zuerst folgen wir unserer Aufstiegsspur. Doch je länger wir unterwegs sind, umso öfter ist sie verschwunden. Wir haben Angst, unser winziges Zelt, das auch noch versteckt liegt, nicht wieder zu finden. Unsere oft verzweifelte Suche wird belohnt. Am frühen Abend sind wir wieder beim Zelt.

Der nächste Tag bringt nochmal ein volles Programm. Nach dem Abstieg in die Scharte gilt es, den Gegenanstieg auf den Hump zu bewältigen. Da uns auch das gelingt, wollen wir noch weiter bis zum Lager I. Am nächsten Tag kommen wir schwer bepackt im vorgeschobenen Basislager und einige Tage später wieder im Hauptlager an. Das Wetterglück hat genau bis dahin gehalten. Im Schneetreiben und tiefem Neuschnee marschieren wir drei Tage hinaus bis zum Ausgangspunkt. Glück gehabt !

Bei unserer Rückkehr nach Chengdu herrscht ungläubiges Staunen ob unseres Erfolgs. Die Verantwortlichen laden uns in das beste Restaurant der Stadt ein. Dort lernen wir die Vorzüge der in China viel gerühmten Küche Szetschuans kennen. Man meldet uns sogar nach Peking durch, wo wir vom chinesischen Sportminister in die Sommerresidenz des Kaisers zum Essen eingeladen werden. Nach einem Empfang bei der deutschen Botschaft geht es mit geschwellter Brust heimwärts.


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